Anita Voigt

Karin Weber
Laudatio zu GEZEITEN II – Geformt in der Stadtgalerie Radebeul am 5. November 2021

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wir leben in einer Gegenwart, in der alles in Frage gestellt zu sein scheint, in der uns auf einmal bewusst wird, dass wir nur ein Teil des Universums sind, dass die Natur allmächtig ist, nicht nur den ewigen Kreislauf von Erden, Wachsen und Vergehen bestimmt, sondern uns Menschen auch in die Schranken weist.
Den Tod haben wir gekonnt ausgegrenzt. Nun ist der nahezu unerträgliche Gedanke an die Endlichkeit, an den Tod so unmittelbar präsent, und das irritiert und verunsichert, wo man doch Ewigkeit allgemeinhin lebt.
Anita Voigt ist eine ernsthafte, lebenszugewandte Künstlerin, die nicht im luftleeren Raum lebt, sich nicht im sogenannten Elfenbeinturm mumifiziert. Nein, sie steckt voller Empathie, lässt sich berühren von dem, was sie erlebt und manifestiert ihre Gedanken und tiefgründigen Seherlebnisse in Zeichnungen und Bildwerken, die ohne erhobenen Zeigefinger, in formaler Reduktion auf die archaische Schönheit und gewaltige Kraft von Naturerscheinungen verweist.
Und sie lässt Fragen zu:
„Rutscht man automatisch in die Schublade der Romantiker, wenn die Einsamkeit, das Ausgeliefert-sein … zum Thema werden?“; „Sehen uns fühlen wir alle nicht nur das, wozu wir ohnehin in Resonanz gehen können? Welche Rolle spielt, was mir unerwartet oder sogar unwillkommen widerfährt?“

Panta rei. Alles fließt. Diese philosophische, antike Sentenz von Heraklit beschreibt, dass alles in unaufhörlicher Bewegung ist. Die Welt steht niemals still. Alles ist unablässig ein Werden und Vergehen. Es gibt keine Beständigkeit, nur eine ewige Metamorphose, die auch Goethe schon beschrieb:

„Es soll sich regen, schaffend handeln, erst sich gestalten, dann verwandeln, nur scheinbar steht´s Momente still, das Ewige regt sich fort in allen, denn alles muss in Nichts zerfallen, wenn es im Sein beharren will.“

Die Augen von Anita Voigt haben vieles getrunken, mit Begeisterung und Nachdenklichkeit.
Unverhofft und verwandelt brachen sich elementare Formen Bahn. Denn auf den Papieren kann man fei atmen, kann man durchatmen, befreit vom Draußen und doch gefangen im Innen. Eine wunderbare, beflügelnde Erkenntnis. Kennt man dann das innere Leben der Linien und Farben, dann vermag man das mit eigener Selbstentdeckung zu feiern. Dann nimmt die <>Lust an jeder gelungenen Metamorphose des Sichtbaren zu und es entstehen beeindruckende, neue Zusammenhänge.

Anita Voigt ist auch eine spirituelle Künstlerin, die altes Wissen in sich trägt, die erlebte Landschaftsräume in reduzierter bildlicher Umsetzung mit einer visionär – philosophischen Dimension verbindet. So erwächst aus dem Sichtbaren auch Geistiges für den aufmerksamen Betrachter. So verbindet sich auf geheimnisvolle Weise Bewusstes mit dem Unbewussten.
Naturgewalten sind immer faszinierend, ja beeindruckend.

GEZEITEN ist der Titel der Ausstellung. Das Wort imaginiert Veränderung, eine Metamorphose in der zyklischen Ausrichtung des Lebens auf der Erde. Und dieses Wissen hilft, den Reigen von Geburt jund Tod, Nähe und Ferne mit Gelassenheit und Würde anzunehmen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu gestalten, um dem Leben einen Sinn zu geben.

Im Juni 2020 begab sich Anita Voigt zusammen mit ihrem Mann in einer ausgebauten Feuerwehr auf eine abenteuerliche Reise nach Frankreich, in die nördliche Bretagne. Sie war mit ihrem Skizzenbuch unterwegs, fasziniert von der rauen, unwirtlichen, wild widerspenstigen Küstenlandschaft und von den Gezeiten. Das Kommen und Gehen von Ebbe und Flut widerspiegelt auf unvergleichliche Weise Lebensrhythmen. Für Anita Voigt war es ein Schlüsselerlebnis! Die Niveauunterschiede des Wassers von bis zu 18 m waren überwältigend. Es war für sie großartig, eins zu sein mit der Natur. Sie selbst äußerte sich folgendermaßen dazu:

„Das Thema der Gezeiten ist ein Lebensthema. Unbeschreiblich intensiv und direkt mit allen Sinnen erlebt am Atlantik. Dann gleicht es einer Welle, deren Ausläufer sich an den Hügeln und Felsen meiner Umgebung bis hin zur Sächsischen Schweiz brehcen. Weit über gegenwärtige Zeit hinaus. Die brutale Kraft dieser Naturgewalt birgt Gefahr und Schönheit. Das Wechselspiel gegenseitiger Formung. Wir wissen es längst, doch jeden Tag von neuem entdecken wir die Kontinuität des WANDELS: Und es ist möglich, dass das Einordnen in etwas Größeres, in eine Kontinuität Beruhigung sein kann. Wenn ich zeichne, sortiere ich und ordne. Was auf dem Blatt geschieht, vollzieht sich entsprechend in meinem Inneren, gewinnt Struktur. Mich interessiert, ob diese Veränderungen, die sich während des Arbeitsprozesses in mir vollziehen, auch umgekehrt auf das Gesehene wirken.“

Man muss den Mut haben, Schwarz auch zu behaupten auf dem Weiß von Papieren. Aus der Bewegung heraus hat Anita Voigt mit Pinseln, breiten bürstenartigen und schmalen, mit Tuschen gezeichnet, ganz langsam und mit großer Leichtigkeit. Viele Papiere wurden ausprobiert. Japanpapiere, saugfähig und fein – erfordern ein großes Können. Man muss die Technik beherrschen, muss wissen, wie schnell die Pinselbewegung sein sollte und wie die Konsistenz der Tusche beschaffen sein muss. Jedes Blatt stellt daher eine große Herausforderung dar.
Anita Voigt hat sich intensiv mit japanischer und chinesischer Tuschemalerei beschäftigt. Es geht dort nicht um den Zufall, sondern um die Beherrschung des Mediums, um die Verfolgung eines strengen Formenkanons. Sie hat für dich einen anderen spontaneren Ansatz gefunden. Sie „lässt den Pinsel machen“,  wie sie es mir gegenüber bekannte. Bewusst verzichtet sie auf die menschliche Figur, die in der Abwesenheit aber trotzdem präsent bleibt.

„Der Atem fließt anders in großen Formaten“, sagte mir Anita Voigt. Sie ist eine sehr empfindsame Künstlerin und immer präsent im Duktus der Pinselbewegung und der Bewegung des Kohlestiftes.

In der Bretagne, in der Sächsischen Schweiz, im Wald und mit der Beobachtung des pflanzlichen Wachstums hat sie bildnerische Analogien gefunden, die ein Nachdenken über die Zeit möglich machen.

Das Werden und Vergehen, das Veränderliche in der Natur beschreibt demzufolge auch immer eine biografische Spur – mit Tusche und Kohle oder Tempera umgesetzt.

Großartig, ja überwältigend sind die Kohlezeichnungen der felsartigen Klippen, umbrandet vom Meer, das auf den Zeichnungen nicht sichtbar ist, nur in unseren Gedanken durch das Weiß der Papiere fließt. Dieser halluzinatorische Moment im Kommen und Gehen besitzt etwas archaisch Magisches und macht die Faszination der Arbeiten aus.

Anita Voigt erweist sich auch als eine Tagträumerin mit musikalischem Nachklang. Diese Zwischenwelt einer kraftvollen lyrischen Poesie gibt Halt in dunklen wie hellen Tagen.
Mit Hingabe lässt sie das Schwarz klingen, ermutigt und freudvoll überrascht von dem, was sich da vor ihren Augen ereignet. Es ist eine Realität im Zustand der Schwerelosigkeit, in der alles möglich zu sein scheint. Anita Voigt hat die Zeit des vermeintlichen Stillstands also genutzt, das Glück zu fangen und hat sich neu gefunden.
Der Umgang mit der Kunst lehrte sie das Leben zu achten und den Sturmwind der Zeit gelassen zu betrachten, sich auf sich selbst zu konzentrieren und um die innere Mitte zu ringen, sich nicht zu verleugnen, sich ganz einfach zu leben …

Anita Voigt lauscht auf das Klingen der Welt, könnte man sagen, und vereinfacht das Erlebte im Bild zu einem Gleichnis. Sie hat den Bezug zur Außenwelt, zu natürlich – naturhaften Gegebenheiten niemals verloren in der virtuellen Welt ihrer künstlerischen Selbsterkenntnis und schafft neue Zusammenhänge.

Ja, sie legt eine Spur, ihrer eigenen Natur gemäß, der wir folgen sollten, denn sie sieht im Einfachen das Besondere.
Anita Voigt verwebt in ihren Arbeiten keine Naturmystik oder überschwänglich romantische Ideen.
Im Mikrokosmos ihrer Bildwelt offenbart sich hier der Makrokosmos, das stille Aufeinanderbezogensein der Elemente, der Pulsschlag des Lebendigen; eingebunden in den Kreislauf von Werden und Vergehen und es offenbart sich auch die Macht des Menschen, zu bewahren oder zu zerstören.
Das, was sie sieht und fühlt, ihr innerer Reichtum ist immer präsent, ihre Sehnsucht nach Harmonie ebenso wie ihr Wissen um das labile Gleichgewicht in der Natur.
Eine innere Bewegung ist mit den Arbeiten verbunden, die alles einzuschließen scheint:
Den Wind, den Regen, die Sonne, Himmel und Erde, die Metamorphosen des Geformt – Seins.
Es sind großartige Augenerlebnisse, die uns die Trostlosigkeit, der wir mitunter in letzter Zeit erliegen, zu nehmen vermögen.

Karin Weber