Anita Voigt

Ein Nachdenken über die Zeit… 

Es ist selten geworden, dass man sprachlos vor einem Kunstwerk steht, da das Sichtbare eine innere Bewegung hervorruft, Gedanken und Empfindungen, die alles in einem Gleichnis zusammenzufassen scheinen, was das Leben ausmacht. Ich stand im Atelier von Anita Voigt vor einer monumental wirkenden Kohlezeichnung auf Papier, einer radikal reduzierten Küstenlandschaft mit schroffen Felsformationen, die sich im Weiß des Papiers im oberen Drittel manifestierten. Staunend, nahezu betäubt und mitgerissen sah ich mich hinein und verstand, wie kostbar es ist, zu sein inmitten der Urgewalt von Natur. Ich war mir dessen bewusst, etwas Großartigem zu begegnen.

Es ist unerheblich, wann ein Kunstwerk entsteht, wenn es zeitlos allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten widerspiegelt, die den Betrachter sich selbst und seine Welt in einem besonders klaren Licht erkennen lassen, vielleicht in einem faustischen Sinne. Gerade in einer Zeit existentieller Unsicherheiten, in der ein Virus die Welt in Atem hält und alles im Leerlauf durchzudrehen scheint - die Kultur, die Wirtschaft, das soziale Zusammenleben -  ist Kunst ein Anker, um  im Leben zu bleiben. Es ist ein Stillstand, der zum Nachdenken anregt. Was liegt näher, als in der Landschaft und mit der Landschaft Kraft zu sammeln und nachzudenken.

Im Juni  2020 begab sich Anita Voigt mit ihrem Mann, in einer ausgebauten Feuerwehr,  auf die abenteuerliche Reise nach Frankreich, in die nördliche Bretagne. Sie war mit ihrem Skizzenbuch unterwegs, fasziniert von der rauen, unwirtlichen, wild widerspenstigen Küstenlandschaft, von den Gezeiten. Das Kommen und Gehen von Ebbe und Flut widerspiegelt auf unvergleichliche Weise Lebensrhythmen. Für Anita Voigt war es ein Schlüsselerlebnis! Die  Niveauunterschiede des Wassers von 15 bis 18 m waren überwältigend. Es war für sie großartig, eins zu sein mit der Natur.

Anita Voigt dachte an „Riesenformate“ zur bildkünstlerischen Umsetzung. Ihr ist es immer wichtig, zuerst die sichtbare Form im klassischen Sinne zu begreifen, um später zu reduzieren, das Wesentliche herauszukristallisieren.

Seit vielen Jahren hat die Künstlerin mit Tusche gezeichnet. Der Zwang zur Langsamkeit bedeutet, meditativ zu arbeiten. Das stellt für sie eine große Faszination und Inspiration dar. Als Kind fiel ihr ein Inselbüchlein in die Hand „Tshi-Pai-Shi“. Sie war entzückt von den chinesischen Tuschezeichnungen. Vielleicht hat sie dieses Erlebnis unbewusst geprägt. Vor zwölf Jahren entdeckte Anita Voigt für sich chinesische Reibesteine mit Tuschestangen, die aus natürlichem Leim und Ruß bestehen. Es ist ein Ritual die Tusche anzumischen, die immer wasserlöslich bleibt.  Somit kann man unterschiedlichste Schwarz- und Graunuancierungen erreichen. Das heißt, man kann die Zeichnung immer wieder anlösen und die Linien teilweise auswaschen. Die traditionellen europäischen Tuschen haben eine andere Konsistenz. Korrekturen sind nicht möglich. Man muss den Mut haben, Schwarz auch zu behaupten. Aus der Bewegung heraus hat sie mit Pinseln, breiten bürstenartigen und schmalen, gezeichnet, ganz langsam, mit großer Leichtigkeit. Viele Papiere wurden ausprobiert.  Japanpapiere, saugfähig und fein - erfordern ein großes Können. Man muss die Technik beherrschen, muss wissen, wie schnell die Pinselbewegung sein sollte und wie die Konsistenz der Tusche beschaffen sein muss. Jedes Blatt stellt daher eine große Herausforderung dar. Anita Voigt hat sich intensiv mit japanischer und chinesischer Tuschemalerei beschäftigt. Es geht in der klassischen chinesischen Tuschemalerei nicht um den Zufall, sondern um die Beherrschung des Mediums, um die Verfolgung eines strengen Formenkanons. Anita Voigt hat für sich einen anderen spontaneren Ansatz gefunden. Sie „lässt den Pinsel machen“, wie sie es mir gegenüber bekannte und betont ihre Wurzeln in der Tradition der europäischen Zeichnung und Malerei.

Bewusst verzichtet sie auf die menschliche Figur, die mit der Abwesenheit dennoch präsent bleibt.

„Der Atem fließt anders in großen Formaten“, sagte mir Anita Voigt. Sie inspirieren vor allem Seherlebnisse, die eine Resonanz in ihrem Inneren finden. Anita Voigt ist eine sehr empfindsame Künstlerin. Sie ist immer präsent im Duktus der Pinselbewegung und der Bewegung der Zeichenkohle. In der Bretagne, in der Sächsischen Schweiz, im Wald und mit der Beschäftigung des pflanzlichen Wachstums hat sie bildnerische Analogien  gefunden, die ein Nachdenken über die Zeit möglich machen.

 Das Werden und Vergehen, das Veränderliche in der Natur beschreibt demzufolge auch immer eine biografische Spur - mit Tusche und Kohle oder Tempera umgesetzt.

Großartig, ja überwältigend sind die Kohlezeichnungen, der felsartigen Klippen, umbrandet vom Meer, dass auf den Zeichnungen nicht sichtbar ist, nur in unseren Gedanken durch das Weiß der Papiere fließt. Dieses halluzinatorische Moment im Kommen und Gehen besitzt etwas archaisch Magisches und macht die Faszination der Arbeiten aus.